Bevölkerung oft kaum noch das Existenzminimum sichern.
Israel Hame'iri, Jahrgang 1948, ist im Kibbuz Givat Chaim aufgewachsen, der zwischen Tel Aviv und Haifa liegt. Im Jahr der Staatsgründung geboren, absolvierte er den Militärdienst im Sechstagekrieg und der Folgezeit. Er erkannte bald, daß Israel einen Pyrrhussieg errungen hatte, und heute ist er Mitglied der Frieden-jetzt-Bewegung. An der Universität Haifa lehrt er als Literaturwissenschaftler und lebt mit seiner Familie in einem kleinen Dorf im Norden des Landes. Man könnte in dieser Lebensweise einen Rückzug aus den politischen und kapitalistischen Zentren Israels vermuten, eine Flucht in die Idylle. Aber Hame'iris Debütroman, der jetzt auch auf deutsch vorliegt, macht deutlich, daß dies ein Fehlschluß wäre. "Symbiose" ist ein hintergründiges Buch, das die Verhältnisse innerhalb einer kleinen Menschengruppe zu beschreiben scheint; in Wirklichkeit jedoch enthält er radikale Aussagen über eine ganze Gesellschaft, und diese Aussagen sind bedrückend.
Der Ort der Handlung ist ein nicht näher bezeichnetes Naturschutzreservat, das offensichtlich im Norden des Landes liegt, in einer Gegend, die dem Autor aus eigener Anschauung bekannt ist. Damit stellt sich Hame'iri in eine Tradition, die in der israelischen Literatur seit Jahrzehnten zu beobachten ist: Immer wieder verwenden ihre Schriftsteller - Ishar und Tammus, Jehoschua und Schalev, Grossman und Mira Magén - die israelische Naturlandschaft und ihre Veränderungen als Metaphern für die historischen Prozesse, die sie in ihrer Prosa aufzudecken suchen.
Zu den Ironien dieser Landesgeschichte gehört es, daß auch Ariel Scharon sich als Landwirt bezeichnet. Zuweilen liebt er es, davon zu sprechen, daß er der Politik müde sei und zu seinen Schafen in den Negev zurückkehren wolle. Dort besitzt er eine Farm, die freilich ein kapitalistisches Großunternehmen ist und mit den sozialistischen Idealen der frühen Kibbuzbewegung nichts mehr zu tun hat. Aber zur Taktik neuer Eliten gehört es von jeher, sich die Insignien der alten Autoritäten anzueignen, wenn sie sich an ihre Stelle setzen.
Dem schwarzen Humor israelischer Maskenspiele verdankt auch Hame'iris Roman einen Teil seiner nicht unbeträchtlichen Wirkung. Daniel, ein Biologe, ist Leiter des Naturschutzreservats und Icherzähler; aus dieser Verschränkung von Perspektive und Handlung gewinnt der Roman seine Doppeldeutigkeit. Daniel ist ein Autokrat mit einer hohen Meinung von sich, aber was er zu erzählen hat, gereicht ihm nicht gerade zur Ehre.
Er ist verheiratet, doch schon zu Beginn wird klar, daß er seiner Frau nicht treu ist. Im Reservat lebt noch ein zweites Ehepaar. Sie ist eine ehemalige Soldatin, die hier früher gedient hat und damals seine Geliebte war, ihr Mann ist ein etwas älterer Maler, der sie in zweiter Ehe geheiratet hat. Trotz der langen Zeit ihrer Bekanntschaft ist die Beziehung zwischen Daniel und der jungen Frau nie ganz abgebrochen. Eine andere Soldatin, die hier jetzt ihren Militärdienst versieht, hätte an diesem einen Tag eine Gruppe von Touristen durch das Reservat führen sollen, doch sie erscheint nicht zur Arbeit. Daniel trägt seiner Nachbarin auf, für sie einzuspringen: ",Klar, daß dir diese Führung zusätzlich angerechnet wird', sage ich zu ihr. Sie antwortet nicht, dreht nur den Kopf kaum merklich nach rechts, als wollte sie ihn einen Moment lang ausruhen lassen, während die Hände auf der nassen Windel liegen, die ihre roten Finger zwischen zwei Wäscheklammern, einer gelben und einer blauen, gespannt haben. So steht sie, Hanni, und ich hinter ihr, mein rechter Ellbogen angewinkelt im Ärmel des Battledress, meiner Kampfjacke mit den umgedrehten Rangabzeichen eines Oberstleutnants auf den Schulterklappen, die ich im Reservedienst selbstverständlich richtig herumdrehe."
Wie in einer Ouvertüre klingen hier bereits viele Themen der Textkomposition an. Daniel ist ein hoher Offizier im Reservedienst, der seine Rangabzeichen zwar immer trägt, aber sie nicht offen zeigt. In seiner bürgerlichen Existenz tritt er mit verdecktem Visier auf: Hinter der Fassade der zivilen Gesellschaft ist eine Machtstruktur verborgen, in der das Gesetz des Stärkeren herrscht. Da der Herr dieser Welt aber zugleich ihr betrachtender Erzähler ist, werden wir, wie oft in Tragödien, zu Zeugen seiner Selbstenthüllung. Das Leben im Naturschutzreservat wird nach Regeln geführt wie in Sigmund Freuds Urhorde: Ein starkes Männchen nimmt alle Weibchen in Beschlag, es fällt auch alle Entscheidungen, selbst über Leben und Tod. Allmählich tritt bei dieser Konstellation zutage, daß Daniel unter anderem von einem Mord erzählt.
Oder genauer: schweigt. Man kann Hame'iris Werk als Variante eines Kriminalromans lesen, und deshalb sei von den Pointen der Handlung nichts verraten. Deren Hintergründigkeit erschöpft sich allerdings nicht im Verbergen und Aufdecken eines Verbrechens. Vielmehr geht es um die Mechanismen einer ganzen Gesellschaftsordnung, die, nolens volens, ausgerechnet von dem Mann entlarvt werden, der an ihrer Spitze steht. Hame'iri entwickelt dabei ein nicht geringes Maß an Ironie. Das Naturschutzreservat soll eine Reinheit bewahren, eine Ursprünglichkeit und Unschuld, die durch die Korruption menschlicher Gesellschaft gefährdet sind. In Daniels Erzählung aber scheint das genaue Gegenteil durch: Er ist es, der die Ordnung im Reservat bestimmt, und deshalb ist sie unmoralisch wie er selbst.
Wie die Vertreibung aus dem Paradies hat Israel Hame'iris Roman einen universalen Aspekt, er ist aber auch ganz israelisch. Ein Verbrechen ist geschehen, und jemand muß die Verantwortung übernehmen. Im Reservat arbeitet ein Druse, der einen geistig zurückgebliebenen Sohn hat, und alle Netze sind bereits gelegt: Am Ende, das ist unschwer vorauszusehen, wird dieser kranke Mensch als der Schuldige dastehen.
JAKOB HESSING
Israel Hame'iri: "Symbiose". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003. 199 S, br., 15,- [Euro].
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